Im Bauch des Hauses, Neue Prosa, Waldgut Verlag, Reihe lektur, Band 50, Frauenfeld 2018, 148 Seiten, Umschlag Handpressendruck Atelier Bodoni, Inhalt Digitaldruck.
«Im Bauch des Hauses» ist eine reichhaltige Sammlung neuer Prosa von Irène
Bourquin. Menschen, ihre Schicksale in der Stadt und auf dem Dorf,
Liebesgeschichten, «Fluchtreden», Begegnungen mit skurrilen «Bühnenfiguren»,
Segelabenteuer, Jazzkonzert, Reiseerlebnisse im Norden und Süden, Oldtimer-Fahrer
und Igel: Personen und Ereignisse sind in pure, konzentrierte Sprache gebracht;
lesend ist man mittendrin.
Diese Texte sind anregend, sie spielen ernsthaft mit der aktiven Gegenwart – es
macht Freude, sich in solcher Sprachsicherheit zu bewegen.
Das Buch ist bei der Autorin noch erhältlich.
Bassgesang
Als sie in raschem Schritt die Strasse hinaufging, zwischen zart ergrünenden Gärten,
gelb, rosa und weiss blühenden Sträuchern, kam ihr von oben überraschend eine
Klangwoge entgegen. Eine tiefe, dunkle Männerstimme sang in einer fremden
Sprache. – Verwundert lauschend stieg sie weiter den Hang hinauf, bog nach rechts
ab vor der letzten Villa auf der Seeseite, beim mächtigen Baum, dessen Geäst an
Weihnachten 24 riesige, farbige Kugeln getragen hatte. – Der Gesang wurde lauter, es
klang wie ein russischer Choral.
Da sah sie ihn: Hinter dem Parkgitter der Psychiatrischen Klinik, mit Blick auf den
See, der sich stahlblau unter der Bise kräuselte, stand, den breiten Rücken ihr
zugewandt, ein massiger, schwarzhaariger junger Mann und sang aus voller Brust. –
Ein Mongole, dachte sie.
Bei der Klinik wurde gebaut; aussen am Drahtgitter, das den Zugang zur Baustelle im
Park verwehrte, hing ein gelbes Schild mit rotem Signet: Schutzhelm tragen
obligatorisch.
[ … ]
Beobachtung
Gleitende Bewegung im Wiesengrün, hinter dem Weiler, dort wo die Weide ansteigt
zum Wald. Zwei Tiere, sie folgen dem Lauf des Elektrozauns, hintereinander, immer
im gleichen Abstand. Aus der Ferne sind sie nur schemenhaft zu sehen: Körper,
Beine, Schweife –
Islandpferde aus dem Stall in der Nähe? Pfauen mit hängendem Prachtschwanz –
Exoten, die es hier nicht gibt? Wollschweine gibt es hier auf dem Land, Gänse, auch
Lamas –
Wie weit sich die Wölfe aus den Bergen schon vorgewagt haben, ist umstritten.
Einzelgänger wurden gesichtet, ein Jungwolf von einer Lokomotive erfasst und
getötet. Zwei Tiere sind kein Rudel –
Die Schemen ziehen weiter, stehen still, ziehen weiter an diesem sonnigen,
friedlichen Nachmittag im Herbst.
Wollschweine, Gänse, Lamas haben keine Schweife. Rehe zeigen sich selten am Tag.
Die Islandpferde müssten ausgebrochen sein, aus ihrem Hof, ihrer Weide.
Wölfe – Wölfe gibt es wieder im Land, wie auch anderes, was es nicht mehr zu geben
schien, hier und anderswo: Ungeziefer, längst überwunden geglaubte Krankheiten,
Pest, Sklaverei, Piraten – dem Kinderbuch von einst entsprungen, erschreckende
Fratzen im Heute.
[ … ]
Zeitflucht
Bin fremd in dieser Zeit, schon immer, habe ein vorelektronisches Hirn, an dessen
Strukturen die Bits keinen Halt finden, wohl aber Tannenrauschen und Mondschein,
schreibe Briefe von Hand noch, ja lacht ihr nur in der Schlange, und diese Hand ist
nicht fähig, ein vorfabriziertes gelbes Postpaket zu falten, zu knicken und biegen
nach Vorschrift, entsprechend den Normen für flüssigen Förderbandverkehr, ja lacht
nur, ihr hinter dem Schalter – der Inhalt, der Inhalt ist wichtig, er kommt doch von
Herzen, der Inhalt meines Pakets, und die wirren Klebstreifen wider die Norm, sie
spiegeln mein inneres Chaos, das heillose Chaos des Fremdlings in dieser
durchreglementierten Zeit!
[ … ]
Irgendwann, irgendwo
Er trug die Regenschuhe, die unfehlbaren, die Schuhe, die den Regen riefen, die
regnen liessen, wo er auch war. Die Sohlen, die nasses Pflaster liebten, das Leder, das
dunkel wurde, sobald er das Haus verliess. Er ging auf Strassen, ging durch Gassen,
ging über Brücken, ging durch Tore, ging in den Regenschuhen auf fremden Strassen,
durch fremde Gassen, auf Brücken über fremde Flüsse, durch fremde Tore in fremde
Höfe – es plätscherte, wo er auch ging.
Sie trat in Sandalen aus der Tür, blickte zum Himmel und zögerte nicht. Sie hatte
nicht gezögert, nach kurzem Blick aus dem Fenster, sie sah die drohend geballten
Wolken, das grauschwarze Wettergetürm. Den Schrank geöffnet: die schwarzen
Sandalen, rasch die Riemen gestrafft, ins Treppenhaus und durchs Hotelportal hinaus
in den Park. Es regnete nicht, es regnete nie, entgegen aller Erwartung, wenn sie
diese Sandalen trug.
[ … ]
Ásbyrgi
Staunend haben sie den riesigen Felsenkessel betreten: Senkrecht schiessen
zerfurchte Wände auf ins Blassblau des späten Nachmittags. Langsam wandern sie
am Grund auf schmalen Pfaden durch Gesträuch und Gestrüpp, Rinnsalen entlang,
bis zum herbstgelben Birkenhain mit den silbergrauen Stämmen. Da glänzt ein
verwunschener Teich. – Stille. Erfüllte Lautlosigkeit. Unsichtbare Anwesenheit. Blick
hinauf in die Zacken und Schrunden, zu den langgezogenen Felswesen im grau
schattierten Gestein. Gesichter. Gestalten. Echo.
[ … ]
Gut beobachtet
Beat Brechbühl legt in seinem Verlag das achte Buch der Winterthurer Autorin Irène Bourquin vor –
und es ist eines ihrer feinsten. [ … ] Die frühere Feuilletonchefin beim «Landboten» weiss, was gute
Literatur ist, und sie hat längst ihren eigenen Stil gefunden zwischen raffinierter Andeutung und
lakonischem Berichten. «Im Bauch des Hauses» vereint 49 Kurzprosapreziosen, die unspektakuläre
Beobachtungen – lauter Alltagsmomente – in bedachte Sprache kleiden. Leise Melancholie oder
Resignation, «hochgeschwemmte Erinnerungen» und scheinbare Idyllen: Da ist viel Raum für
unsere Gedanken, bleibt so vieles offen, ungesagt, voller Leerstellen. «Früher war da noch die
Katze gewesen»: So hebt «Die Klause» an über einen vereinsamten Mann, der die Heckenschere
nicht mehr finden konnte und nur noch von den Spatzen beobachtet wurde. In «Schwarz» ist vom
Nachbarn nur sein schwarzer Stuhl geblieben. Die Protagonisten sind namenlos, dezent die
literarischen Reverenzen. Schön, wie Irène Bourquin Erzählperspektiven wechselt und oft einen
überraschenden Ausgang wählt. [ … ]
Dieter Langhart in: Thurgauer Zeitung, St. Galler Tagblatt, Luzerner Zeitung, 29.11.2018
In 49 Variationen erzählt Irène Bourquin von vertrauten Gesprächen, kurzen Ausfahrten, flüchtigen Begegnungen oder der Einsamkeit älterer Menschen. Die fast durchwegs kurzen Texte gleichen Skizzen, die mit sicherem Strich entworfen sind und mit wenigen Schraffuren auskommen. Das Geschehen ist oftmals nur zu erahnen, schnelle Blicke und Gegenblicke, abrupte Wechsel der Erzählperspektive erzeugen eine leichte Unruhe. Mit einer hin und wieder lakonischen Färbung verwehrt die Autorin so ihrer Prosa jene Geschlossenheit, die sie fertig erscheinen ließe. Die Skizzen behalten stets etwas Offenes, darin liegt ihr Reiz und Geheimnis.
Beat Mazenauer in: Viceversa 13, 2019
Figurenreich, mit feiner Ironie und glasklarer Reflexion schreibt Irène Bourquin über Begegnungen, Beziehungen, Alltägliches und Besonderes. Sie beobachtet scharf, ergründet Widersprüchliches, Verluste, das Absurde und kontert mit Menschlichkeit. «Im Bauch des Hauses» dokumentiert das breite Können einer Autorin, die ihren eigenen Weg geht und es versteht, in knappen Sätzen komplexe Bilder zu evozieren.
Programmtext Solothurner Literaturtage 2019