Das Meer im Dachstock


Das Meer im Dachstock, Lyrik und Kurzprosa, pendo-verlag, Zürich 1995, 96 Seiten.

Das Buch ist bei der Autorin noch erhältlich.

Textprobe

Das Meer rauscht im Dachstock – elektronisch, illusorisch –, brandet gegen die Brandmauer, umspült Balken und Riegel, Gischt sprüht zu Luke hinaus. Knarrende Masten im First, zappelnde Fische im Kopf: Erinnerungen, das Meer, das Meer.
Aus sandigem Schlick steigt es gurgelnd auf, rasch wandert der Silberstreifen im Mondlicht heran, wird breit und breiter, schon schäumt es, klatscht es gegen die Mauern am Mont-Saint-Michel. Leuchtplankton wirft es nächtlich aus, vor deine erstaunten Füsse, an der Pazifikküste Mexikos. überwirklich flimmert es in karibischer Mittagshitze, schaumgeboren ein brauner Junge treibt wiehernde Pferde aus der Flut. […]

Rezensionen

Die Sehnsucht im Kopf erschafft sich das Bild vom Meer im Dachstock. Irène Bourquin entfaltet es in ihrer neuen Lyrik- und Kurzprosasammlung. Ferne und Weite holt sie heran und weiss doch schliesslich: «Die fernsten Städte / liegen innen / unerreichbar nah / / kein Gedankenblitz / fährt hin». In solch poetischer Paradoxie richten sich die knappen lyrischen Notizen ein, und selbst wenn die Prosaaufzeichnungen einen längeren Atem entwickeln und oftmals zu grosser Gebärde ausholen, so bewahren sie den magischen Zauber. Dabei sind die Themen so zeitlos wie zeitbewusst [ … ] Irène Bourquin verschliesst sich gegenüber strikten Deutungen, traut dagegen der behutsamen Spur; so entstehen stille, aber präzise Texte.

B. En. in: NZZ, 10./11. 2. 1996

Wahrnehmungen, die sich den meisten entziehen, gehen in diese Texte ein und erschaffen ein stilles Leben: Etwa ein Augenblick am Teich, wo das Spiegellicht im Schilf zittert und die Libellen ihr Leben vertanzen, kann die Autorin zu feinnervigen Impressionen verführen. Sie sprechen behutsam die Sinne an und sprengen zugleich die Grenzen zwischen Realität und Traumwirklichkeit. Wind und Mondeis, Tiere und Wälder, Schnee und Hügel schieben sich vor das Auge der Betrachterin, die mit sparsamen Worten ihre lyrische Silhouette umreisst. [ … ]
Schön sind diese Textgebilde, von jener schmerzlichen Schönheit bisweilen, auf deren Grund die Wehmut wohnt. Manchmal decken sie Trauer über die Vergänglichkeit all dessen auf, was lockt und verzaubert. [ … ] Gleichzeitig aber entwirft Irène Bourquin Bilder für die Sehnsucht, wie jenes unbändige vom Meer im Dachstock, das ihrer Textsammlung auch den Titel mitgegeben hat. Es steht einem Prosastück voran, das in der Abfolge der Sätze von Musikalität zeugt und beim Leser eine mitreissende Wirkung erzielt, weil es wie ein Sog vorantreibt. Andere Prosastücke wiederum verraten den Sinn der Autorin für Ironie.

Beatrice Eichmann-Leutenegger in: Der kleine Bund, 9. 3. 1996