Herbstflut. Bretagne – eine Liebesgeschichte, Waldgut Verlag, Reihe lektur, Band 34, Frauenfeld 2012, 80 Seiten, Umschlag Handpressendruck Atelier Bodoni, Inhalt Digitaldruck.
«Sie kennen das: Zwei Menschen erzählen andern die gleiche Geschichte. Ab sofort gibt es zwei
neue Geschichten, die sich so stark unterscheiden, dass sich daraus wiederum völlig neue
Erzählungen machen liessen …
Hier unternimmt ein Paar eine Reise in die Bretagne, ein uns zu weiten Teilen archaisch
anmutendes Land mit geschichtsträchtiger Struktur und touristischen Attraktionen: Ein Reise-Traum
unzähliger Menschen. Die beiden schreiben – nein, weder Tagebuch noch literarischen Reiseführer;
dazu sind die Ereignisse, Schilderungen, Gefühle, Geräusche, Töne, Erlebnisse, Bilder zu bewusst
gebaut und ausgefeilt. Anstelle von Fotografieren oder Filmen schreiben sie (nicht) alles auf, für
sich und für uns.
Schon ein paar Ortsnamen in den Überschriften der kurzen, prägnanten Stücke wecken Neugierde
und Sehnsüchte: Quimperlé, Kerity, Roguennic, Sainte-Barbe, Côte de granit rose.»
Beat Brechbühl
Das Buch ist bei der Autorin noch erhältlich.
Am Meer
Der kleine Hafen lag an einem Meeresarm. Bunt gestrichene Boote
ankerten im Blau. In der Stille Möwengeschrei.
Sie waren auf die grossen, kantigen Blöcke geklettert, die, zum Wall
gehäuft, als Wellenbrecher dienten. Weit öffnete sich das Meer im Wind.
Gleissende Mittagssonne, der Himmel wolkenlos. Während des Gesprächs
schaute sie ins Geschaukel der Wellen: blauglitzerndes Gefunkel,
springende, leuchtende Punkte, winzige, tanzende Lichtexplosionen.
Davon könnte man high werden, dachte sie. – Ins funkelnde Geschaukel
schauend fiel sie aus der Zeit.
Eine grosse Möwe landete auf einem Felsblock neben dem Paar, stand auf
einem Bein, blickte wachsam herüber.
Später gingen sie auf dem Küstenweg, hoch über schwarzgezackten
Klippen, durch gelbgrünes Gras. Der Freund trat vorsichtig auf, er hatte
sich auf dem Parkplatz beim Wechseln der Schuhe den Rücken verstreckt.
«Ich muss gehen», sagte er, «gehen hilft.» Der Pfad verzweigte sich.
Verwundert sahen sie breite, steinerne Ringe, ins Gelände versenkt, einst
vermutlich Teil einer Befestigung. Nach einiger Zeit machten sie Rast. In
der Wiese sitzend, schreibend, hatte sie seinen Rücken im Blick, die
schwarze Jacke, den weissen Schopf, vor der Bläue von Himmel und Meer.
[ … ]
Irène Bourquin
Nachsommer
Es war um die Mittagszeit. Sie sassen auf einem Wellenbrecherwall aus
grauen Felsbrocken, vor ihnen ein Fischerhafen. Seitlich zwei Armlängen
entfernt ruhte eine weisse Möwe. Sie hätten gerne gewusst, was in ihr
vorging. Schaute sie ihren Artgenossen zu, die über dem Hafenbecken
kreisten und kurze Schreie ausstiessen? Eine der Kreisenden war grösser
und von bräunlicher Farbe. Im Sturzflug entriss sie einer weissen Möwe
den Fisch, den diese im Schnabel trug.
Sie stiegen vom Wall herunter. Auf dem Sentier des douaniers, dem alten
Zöllnerpfad, folgten sie der Küste. Mal ging es steil hinauf, dann wieder
fast bis zum Wasser hinab.
Ob die weisse Möwe von vorhin auf einem oder zwei Beinen gestanden
habe, fragten sie sich. Sie hatten es sich nicht gemerkt. Er sagte, dass in
dem Dorf, in dem er aufgewachsen war, einst ein Storch während Wochen
auf dem Giebel der Kirche übernachtet habe. Er schlief auf nur einem Bein,
daran könne er sich noch genau erinnern. Man war im Dorf wegen des
Storchs in Sorge. Es war spät im Herbst, die Nächte kalt geworden. Warum
war der Storch nicht längst in den Süden gezogen? Man wollte ihn vor dem
Erfrieren bewahren. Aber noch ehe man etwas unternahm, war er
verschwunden.
[ … ]
Oskar Pfenninger
Eroberung
Die kleine Narbe am Schienbein ist noch da – hoffentlich wird sie bleiben.
Sie sah ihn unten an der Wasserkante gehen: die schwarze Jacke, der
weisse Schopf. Beharrliche Bewegung, gegen den kalten Wind gestemmt,
die Füsse von Gischt umspritzt.
Ihre Schuhe pflügten durchs Geröll, oben auf dem Rücken der Düne.
Rundgeschliffene Kiesel, bläulich, rötlich, gelblich, grau. Die Füsse
rutschten in den breit geschnittenen Schuhen. «Die bequemsten Schuhe
ihres Lebens» versprach die Werbung des Spezialgeschäfts. Kurz vor den
Ferien hatte sie, der Werbung folgend, diese Schuhe gekauft. «Von mir aus
gesehen wirken sie gar nicht so breit wie für Sie, wenn Sie hinabschauen»,
bemerkte die Verkäuferin. Das war der Kundin ohnehin egal.
Die Schuhe waren wirklich sehr bequem – auf der Strasse. Hier aber, beim
Sillon de Talbert, hatte sie sich um eine Null geirrt: Nicht dreihundert
Meter streckte sich die sichelförmige Düne, entstanden durch einander
entgegenlaufende Strömungen, ins Meer hinaus – mehr als drei Kilometer
waren es.
Am Anfang des Weges, nah bei der Küste, feiner Sand, der in die Schuhe
rann, Strandgras, der Pfad war abgegrenzt durch einen Rutenzaun. Links,
in Richtung der sinkenden Sonne, ragte ein riesiger schwarzer Felsblock
aus dem Meer. Der Gefährte ging voran, in gutgeschnürten Wanderschuhen.
Sie folgte, so rasch es ging, hob die breiten, bequemen, allzu
weiten Schuhe und setzte sie auf den Sand.
Plötzlich war der Rutenzaun zu Ende, der Sand verlor sich im Geröll.
Schilder forderten dazu auf, nach Möglichkeit, wie die Gezeiten es
erlaubten, am unteren Rand der Düne zu gehen, um das Naturdenkmal zu
schonen. Die kühle Brise frischte auf, Schaumkronen eilten übers Meer. Sie
schritten ins Geröll hinein, gingen im Geröll, sanken ins Geröll,
Knirschen, Klickern, Klackern der Kiesel, Knirschen, Klickern, Klackern
[ … ]
Irène Bourquin
Le sillon de Talbert
Es begann bereits zu dämmern, als sie aus dem Wagen stiegen. Von der
Düne, deretwegen sie an diesen Ort gekommen waren, trennten sie kaum
hundert Schritte. Vom Parkplatz aus blickten sie auf die Düne, ein schmales
Band, dreieinhalb Kilometer lang, weit draussen in der Form einer Sichel
endend; zu beiden Seiten das Meer. Eine Kuriosität der Natur, eine
Attraktion für Touristen.
Auf dem ersten, kurzen Stück der Düne gingen sie auf Sand. Aber bald
wurde es steinig, lauter Kieselsteine; das Gehen wurde anstrengend.
Sie waren nicht allein auf der Düne, aber die meisten Touristen, denen sie
begegneten, waren auf dem Rückweg, wollten vor der Dunkelheit wieder
auf dem festen Land sein.
Sie hatten etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, als der Mann zum
schmalen Streifen Strand hinabstieg. Er versprach sich ein leichteres
Vorwärtskommen am Saum des Wassers, wo die Steine kleiner waren. Es
war aber dunkler als oben auf der Düne. Er stiess mit den Schuhen an
grosse Steine, stolperte. Er musste Tümpeln ausweichen, und
angeschwemmte Hölzer versperrten ihm den Weg.
Er sah oben die Freundin in gleichmässigem Tempo zügig vorwärts
schreiten. Sie hatte einen aufrechten, sportlichen Gang. Er musste sich
anstrengen, um nicht hinter ihr zurückzubleiben. Deutlicher als sonst
erkannte er, dass seine Freundin sehr viel jünger war.
[ … ]
Oskar Pfenninger
Zwei Menschen, eine Reise
Die Idee ist nicht neu, aber Irène Bourquin und Oskar Pfenninger haben sie gekonnt umgesetzt:
Beide schreiben über dasselbe aus unterschiedlicher Perspektive. «Herbstflut. Bretagne – eine
Liebesgeschichte» erzählt vom Herbst in einem von der See gepeitschten, an Kirchen reichen Land
und erzählt die Geschichte vom Herbst zweier Menschen, die sich gefunden haben nach einem
ersten Leben. Und diese Leben, Vergangenheiten fliessen mit Gewohnheiten und Ansichten in die
Liebesgeschichte ein.
Es ist ihre eigene Liebesgeschichte, doch Bourquin und Pfenninger nehmen genügend Abstand,
indem sie literarisch und unterschiedlich umgehen mit ihr. Irène Bourquin schreibt poetisch, luftig,
impressiver, während Oskar Pfenninger einen eher nüchternen Ton anschlägt.
Meist ist das Paar miteinander unterwegs und schreibt die Episode des Tages nieder – das ergibt
herrliche Unterschiede in Betrachtung und Beurteilung, selbst im Titel: Er nennt sie «Côte de granit
rose», sie «Granitgesichter». [ … ] Doch einfache Paarungen wären ihnen zu mechanisch;
bisweilen steht seine oder ihre Geschichte allein. Sie kennt das Land gut, war oft im Haus ihres Onkels,
zeigt ihm die vertrauten Plätze; er fühlt sich manchmal wie ein Aussenstehender.
«Herbstflut» ist nicht Tagebuch, auch nicht Reiseführer. Die Geschichten transzendieren die Orte
und erzählen viel über die Menschen, sind warm und voller Auslassungen und lassen unserer
Vorstellungskraft Raum. [ … ]
Dieter Langhart in: Thurgauer Zeitung, 28. 11. 2012
Das alte Paar und das Meer
Man möchte den Liebsten packen und sofort hinfahren zu den rosenfarbenen Felsbrocken der Côte
de granit rose oder zu der sichelförmigen Landzunge aus Sand und Kieseln «Le sillon de talbert» im
westlichsten Zipfel von Frankreich, der Bretagne.
Irène Bourquin und Oskar Pfenninger haben das getan. [ … ] In dem schmalen Bändchen
«Herbstflut» haben sie die Erlebnisse niedergeschrieben. Mehrfach das gleiche Erleben, jeder aus
seiner Sicht. Ein sehr reizvolles Unterfangen. [ … ]
In dem titelgebenden Erlebnis der Herbstflut geht jeder seinen Weg, die Flut zu erleben. Bei beiden
ist es auch ein Hörerlebnis. [ … ] In dieser Episode wird der Kosmos der «Liebesgeschichte», wie der
Band untertitelt, angedeutet: Der Wunsch, auch in einer Beziehung seine eigenen Erlebnisse zu
wahren, die Furcht, die Liebe könnte (durch einen Unfall) zu Ende sein, die Erleichterung und
Freude, sich wiederzuhaben. Hier ist das doppelte Erzählen auf seinem Höhepunkt. [ … ]
Kostbar wird der schmale Band des Schweizerischen Waldgut Verlages [ … ] durch den
handgesetzten Umschlag auf Werkpapier, ein Vergnügen für Augen und Fingerspitzen, die spüren:
dieses Buch wurde mit Liebe gemacht.
Simone Trieder auf: www.fixpoetry.com, 18. 1. 2013
Ein schreibendes Paar, Irène Bourquin und Oskar Pfenninger, reist in die Bretagne und hält im Wechselspiel schriftlich fest: Ereignisse, Gefühle, Geräusche, Töne, Erlebnisse und Bilder (anstatt zu fotografieren oder zu filmen). Mit behutsamer und feinfühliger Sprache ist daraus mehr als ein Reisebuch geworden, es ist auch die Geschichte einer späten Liebe. Wunderschön!
Richard Butz in: Saiten – Ostschweizer Kulturmagazin, Februar 2013